Wurzeln des Leids
Sehr unpopulär: über Kinder suchtabhängiger Eltern sprechen zu wollen, insbesondere wenn sie schon erwachsen sind. Völlig uninteressant. Die sollen nicht zurückblicken, und schon gar nicht anklagen. Gibt doch genügend Menschen mit schwieriger Vergangenheit, oder etwa nicht? Gerne liest man mal ab und an die Erfolgsgeschichten ehedem Süchtiger, wenn sie eine Abhängigkeit überwinden. Wir Leser mögen Storys, die von Erfolg erzählen, es lässt uns gut fühlen!
Schon weniger interessant sind die Geschichten direkter Opfer, aber auch die lesen viele noch. Wenn jemand Kinder verhungern ließ. Oder die Frau totschlug, und die Kinder gleich mit. Sich der Polizei widersetzte und dabei die Wohnung kurz und klein schlug…Aber es muss schon ordentlich Kitzel dabei sein. Hauptsache, es gibt jemanden, über den man sich aufregen kann.
Dabei steckt der wahre Horror im scheinbar völlig Uninteressanten. Nachbarskinder mit einem Vater, der Alkoholiker ist? Was, die Mutter auch? Ständig Streitereien in der Wohnung 4 Stockwerke über uns? Schlimm, aber wir hören es ja nicht…Kannst du niemanden hinter dem Ofen vorlocken. Da muss schon eine Junkie-Mutter die Tochter fast zu Tode prügeln, oder die Ärmste zum Strich mitnehmen – dann entsteht vielleicht mediale Aufmerksamkeit ( s. beispielsweise „Platzspitzbaby“: Michelle Halbheer). Allerdings ist über dieses Schicksal nur in der Schweizer Bevölkerung ein grösseres Interesse zu erkennen, während Deutschland gerade mal ein wenig gähnte. Aber, was ist denn nun so schlimm am Aufwachsen in einer Suchtfamilie, außer dass es ab und an etwas Lärm gibt??
Wertlos + sinnlos = künftiges Los?
Süchtige, egal von welcher Fakultät, zeichnen sich im wesentlichen dadurch aus, dass eine komplette Werte-Verschiebung einsetzt. Dies tritt schleichend schon in den Frühphasen der Sucht auf, egal ob es sich um Spiel- Internet-, Alkohol- oder Medikamentensucht handelt. Wichtig, wirklich wichtig (!) ist nur noch eines: Die Sucht zu beruhigen, „dem Affen Zucker zu geben“. Im Gefolge dieser Veränderung tritt dann – abhängig von evtl. charakterlichen sowie genetischen Dispositionen eine mehr oder weniger starke Verrohung ein, soziale Abkapselung, Unfallneigung etc., etc.. Gelingt es nicht, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, was selten genug gelingt, dann folgt nahezu unvermeidlich: zerbrochene Ehen, Freunde wenden sich ab, Jobverlust, Vereinsamung, bis hin zum Obdachenlosenheim. Auf der Strecke bleiben die Wehrlosesten: die Kinder. Immerhin, erwachsene Partner können sich irgendwann abwenden und eine wahrscheinlich schlimme, gar demütigende Zeit irgendwann vergessen – aber Kinder?
Kinder sind dazu programmiert, ihre Eltern zu lieben und ihnen zu vertrauen – sie können nicht anders, und das ist normalerweise auch gut so. Im Fall von süchtigen Eltern ist es jedoch fatal, und je jünger die Kinder beim Ausbruch der Sucht sind, wirkt diese Einrichtung der Natur umso gemeiner. Verschiedene Komponenten kommen dann zu einem heimtückischen Gebräu zusammen. Tief im Innern spüren sie zunächst, auch schon als Babies (!), dass sie „nicht wichtig“ sind. Alles dreht sich um den oder die Süchtige, auch der Partner ist massivst von der edelsten Aufgabe der Eltern abgelenkt: Kindern das Urvertrauen zu geben, und sie zu selbstbewussten, ehrlichen und charakterlich kräftigen Menschen zu erziehen.
- Stattdessen werden in leichteren Varianten ständig Versprechen gebrochen (Folge: ich bin es nicht wert, dass mein Vater/meine Mutter Versprechen mir gegenüber hält),
- sie leben im ständigen Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist ( = erzähl ja nichts der Oma/den Nachbarn/im Kindergarten ),
- es fehlt komplett die Identifikationsfigur mit Vorbildfunktion ( alle Klassenkameraden erzählen, wie toll ihre Väter/Mütter sind. Die Kinder aus Suchtfamilien verstummen dann oder fabulieren ) und auf ein Weihnachten oder einen Urlaub freuen sich ältere Kinder garantiert nicht mehr.
- Auf ihr Leben legt sich eine konstante dunkle Wolke. Schließlich kommt in roheren Familien noch dazu, dass – persönlichkeitsabhängig – noch z.B. physischer Missbrauch, Gebrüll, oder sonstige Gewalt das Bild abrunden.
- Soziale Abschottung: Irgendwann geraten selbst die angepasstesten, „diszipliniertesten“ Abhängigen in ein soziales Abseits: Freunde stellen Besuche ein. Je nach Lebensphase der Kinder findet aber über die Integration in das elterliche soziale Leben das Erlernen von Netzwerken statt. Muss man sich verschämt verstecken, gibt es drastisch reduzierte Möglichkeiten, um dieses wichtige „Netzwerken“ zu erlernen.
Glauben Sie aber nur nicht, dass nicht das Bild eines sich in der eigenen Kotze wälzenden Vaters oder einer fast besinnungslos lallenden Mutter nicht einen sehr bleibenden Eindruck hinterlässt! Es muss tatsächlich keine köperliche Gewalt angewendet werden, um einen jungen Menschen für sein Leben lang zu traumatisieren, mit allen möglichen üblen Folgen.
Dazu kommt erschwerend, dass 30-50% der Kinder genetisch prädisponiert sind, ähnliche Grundkonstellationen zu entwickeln wie ihre Eltern. Hat die Mutter evtl. aufgrund psychiatrischer Hintergründe getrunken, z.B. wegen Depressionsneigung oder psychotischer Formenkreise, so ist die Wahrscheinlichkeit, dies auf Nachkommen zu übertragen, mindestens 2-3 mal höher als in der übrigen Bevölkerung. Gerade solche Nachkommen bräuchten gesunde Eltern oder zumindest solche, die mit ihren Behinderungen umzugehen wissen! Da können Sie sich sicher leicht vorstellen, dass es für solch ein Kind doppelt riskant ist, in solch einer Familie aufzuwachsen…
Leider ist es den Eltern kaum bewusst, welches Leid und welchen Schaden sie ihren Kindern zufügen. Sie sind stolz, wenn sie trocken oder sonstwie abstinent werden, lassen sich loben und schieben den Nachkommen, wenn es hochkommt, vielleicht auch mal ein verstohlenes „Sorry“ hin. Dann meinen sie tatsächlich, das wäre es gewesen.Weit gefehlt!
Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, aber diese heisst leider viel zu oft „Verdrängen auf Teufel komm raus“. Ist ja auch einfacher, sich loben zu lassen, als wieder gutzumachen. Nur, je länger die Suchtphase der Eltern gedauert hat, und je früher es begonnen hat, umso tiefer hat sich der tägliche, ewige Alptraum in die kindliche Seele eingegraben, um sich wie eine Made von innen nach außen zu fressen. Jahre oder Jahrzehnte später kann es dann ausbrechen, in Wucht und schwer aufhaltbar.
Kriegserlebnisse, oder Armut sind schlimme, sehr schlimme Erlebnisse, unwidersprochen. Aber solange Eltern, oder sonstige verlässliche und loyale (!!) Bezugspersonen vorhanden sind, lassen sich auch solche Erfahrungen einigermassen glimpflich überstehen. Kinder müssen sich anlehnen können, dann kann „extern“ sehr viel geschehen, ohne dass es massivste Schädigungen hinterlässt. Aber die wenigsten Süchtigen können eben das „Urvertrauen“ vermitteln.
Ausnahmen?
Sicher gibt es Ausnahmen, und Abhängige dürfen nicht neben ihrer Krankheit pauschal in eine Täter-Rolle gedrängt werden. Durchaus gibt es süchtige Eltern, die es trotzdem schaffen, ihre (normalerweise natürliche) Liebe zu ihren Kindern aufrecht zu erhalten. Dann sind die Schäden wahrscheinlich nur marginal, wenn überhaupt. In der Masse jedoch gelingt es den Abhängigen nicht, die emotionalen Voraussetzungen für ein wenigstens einigermassen gesundes Aufwachsen ihrer Kinder aufrecht zu halten. Wie gesagt, kommt es sehr auf die charakterlichen und sonstigen Hintergründe der Abhängigen an, wie sich ihre Krankheit bei ihren Schutzbefohlenen auswirkt.
Abbitte im 12-Schritte-Programm
Wie können die Schäden wenigstens begrenzt werden? Da es aktuell leider noch ein geringes Verständnis für die ungeheure Beeinflussung der Kinder gibt, achtet auch kaum jemand darauf, dass gerade die Kinder eine möglichst frühzeitige „Trauma-Behandlung“ erhalten. Lediglich die AA (Anonyme Alkoholiker) haben in ihrem hervorragenden 12-Schritte-Programm etwas, das darauf hindeuten könnte, dass der (ehemalige) Abhängige auch seiner Umgebung Schaden zugefügt hat – leider nicht explizit auf die Kinder bezogen (Auszug):
8. Schritt: Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
9.Schritt: Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war -, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
Generationsübergreifend
Neuere Untersuchungen legen den Schluß nahe, dass andauernde traumatische Erlebnisse sogar vererbt werden können. Sollte dies stimmen, so wäre auch evtl. eine Belastung der Enkel denkbar: Trauma-Vererbung
Sonstige Möglichkeiten
Wie wäre es, bei Verdacht einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit, diese Familie unter „besondere Beobachtung“ und Coaching zu stellen? Wird nicht mitgearbeitet, könnte der (temporäre) Entzug des Sorgerechts ein Mittel der Wahl sein. Natürlich wird es keine einfachen Lösungen geben – zu vielschichtig und sensibel ist das Problem. Andererseits sollte man bedenken, wieviel Gutes man für die Zukunft unseres Landes tun könnte. So lasset uns Wege finden!